Ob ich in einer konkreten Situation Mitleid habe oder nicht hängt wohl mehr mit meiner Geschichte, meinen Erfahrungen, meinen Vorbildern, meinen inneren Einstellungen, Herzenshaltung, erneuertem Herzen, Wahrnehmungsfähigkeiten, Aufnahmefähigkeit, Denkfähigkeit, momentaner Leistungsfähigkeit, Terminkalender, Jahreszeit, Wetter und politischer Lage zusammen, als mit Spiegelneuronen. Peter Schneider (der Psychoanalytiker, der jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens im Tagesanzeiger beantwortet) liebt die Spiegelneuronen. Dennoch kommt er, wenn auch auf anderem Weg als ich, zum Schluss: „Mitleid ist weder Gefühlsduselei noch eine sich in jedem Fall spontan einstellende Haltung, sondern Produkt der Entscheidung, im anderen einen Gleichen zu sehen. Nicht der andere muss sich Mitleid verdienen, wir müssen es uns abringen.“ (TA vom 26.2.2014, S. 25)
Es geht nicht um das Verdienen von Mitleid, sondern um das Geben von Mitleid. Mitleid kann man nicht verdienen. Es wird einem geschenkt oder eben auch nicht. Dem Gebenden jedoch kostet Mitleid etwas. Er muss sich überwinden, über seinen Schatten und Egoismus treten und sich dem Andern zuwenden. Dann ist es zuerst eben doch eine Gefühlssache: Mitleiden ist ein gefühlsmässiges Mitgehen mit dem Leidenden. Hoffentlich dann auch Ausgangpunkt um auch handfest zu helfen. Aber Mitleiden ist „im Leid des Andern mit dabei sein“. Wenn ich sage, dass jemand kein Mitleid verdient habe, urteile ich über seine Situation, sage ich, dass ich die Ursachen, das Verschulden, die Konsequenzen und alle Umstände kenne. Wäre dem so, dürfte ich wahrscheinlich dieses Urteil fällen. Aber dem ist wohl nie so. Ich sehe nur was vor Augen ist. Vom Eisberg sehe ich nur die Spitze. Was unter der Oberfläche ist, erahne ich nur.
Dann hörte ich doch oft schon von Kranken und Behinderten: „Ich will kein Mitleid.“ Da wehren sich die Betroffenen gegen eine Haltung von oben herab mit dem seufzenden „jöh“ und „ach“ Effekt. Und mehr ist da nicht, mehr kommt da nicht. Für die ist die Sache dann auch erledigt und von ihnen gewiesen.
Ich zweifle daran, ob wir wirklich echt mitleiden können. Sicher eine gewisse Anteilnahme, sich ein Stück weit in den Betroffenen hineinversetzen geht oft schon. Aber wirklich selber so mitbetroffen sein, dass ich mitleide…? Das geht höchstens wenn ich selber auch diese Beschwerden, diese Krankheit, diese Not habe. Sozusagen „Gleich und Gleich kann mitleiden“.
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