Sonntag, 29. Juni 2014
Fazit nach drei Monaten
Aussicht von unserer Wohnung in den Park
„Die gefährlichste Weltanschauung aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“ Alexander von Humboldt. Diese Aussage habe ich an der Spree in der Nähe des Nikolaiviertels gelesen. Und ich bin froh, dass ich ein Stück mir bisher nicht bekannte Welt angeschaut habe. Ja, meine Weltanschauung hat sich wieder etwas verschoben, ist ergänzt worden, manche Zusammenhänge (besonders in Bezug zu Deutschland und seine Geschichte) sind mir klarer. Ich denke, dass es mir als Schweizer gut getan hat, über den Tellerrand zu schauen. Ja, ich habe einen neuen Blick auf die Schweiz, mein Land, bekommen und werde da manches auch wieder anders beurteilen. Ich habe hier gelebte Gastfreundschaft, aktive Verurteilung von Fremdenhass und allen rechtsextremen Machenschaften erlebt. Dass die linksextreme Szene nicht gross auf dem Radar erscheint, schreibe ich hingegen wiederum einer gewissen Blindheit in Berlin zu. Viele junge Deutsche sind auch nicht wirklich in der Geschichte gegründet und hantieren nach Lust und Laune. So hat während der Fussballeuropameisterschaft ein Türke in Berlin eine übergrosse Deutschlandfahne an seine Hausfassade gehängt. Linksextreme haben die Fahne heruntergerissen…
Ich habe viele interessante Menschen kennengelernt. In ihren Grundstrukturen, ihrer Motivation, ihren Mustern und Haltungen waren sie gleich wie in der Schweiz. Alle meinten es gut. Viele davon konnten es nicht gut. Einige sind ins Extreme gefallen und das ist hier in Berlin viel mehr möglich als in einem Schweizer Dorf. Allzuviele leben auch hier nur selbstbezogen und ohne Gott. Es bewahrheitet sich auch hier: "Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält." (Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, 1964)
Es mag ausgefallen sein, drei Monate praktisch unentgeltlich in der Berliner Stadtmission zu arbeiten. Aber diese Zeit hat uns Berlin näher gebracht und ich denke näher als wenn wir viel Freizeit gehabt hätten. Wir haben das Leben hier erlebt, so wie es hier gelebt wird. Wir verstehen die Berliner jetzt besser, Deutschland ist uns näher und manches ordnen wir jetzt neu ein.
Die Erfahrung, dass wir sehr schnell wieder mit neuen Leuten in Beziehung treten können und uns heimisch fühlen können - auch an ganz anderen Orten, das nehmen wir mit. Auch die Erfahrung einer anderen, kleineren Gemeinde, die eine Missionsstation ist und von einem Missionar geleitet wird, das sehen wir neu als gangbarer Weg in unserer nachchristlichen Welt Gemeinde zu bauen. Dabei sehen wir die Schwierigkeiten, das Leiden, den Druck, der da vor allem auf dem Pastor liegt, die manchmal gar ärgerliche Unvollkommenheit und Unzuverlässigkeit,…
Auch die Erfahrung im Umgang mit Situationen von Gewalt wie ich sie z.B. am Bahnhof Zoo erlebt habe, ist lehrreich für mich. Ich habe mich selber beobachtet wie ich reagiere und machte die Erfahrung, dass die Schwelle zur körperlichen Gewalt hoch ist. Vieles läuft verbal und mit Körpersprache ab, da kann ich auch viel dazu beitragen, dass die Situation nicht eskaliert. Es liegt zu einem wesentlichen Teil an mir, ob das Gewaltpotenzial ausbricht oder ob eine Deeskalation stattfindet.
Wir leben in einer Zeit von grosser Freiheit und mit vielen Möglichkeiten. Es wird immer darauf ankommen, für was man seine Freiheit einsetzt. Einer braucht sie um an den geparkten Wagen zu pinkeln, ein anderer macht ehrenamtliche Arbeit.
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