Samstag, 31. Mai 2014

Fazit nach zwei Monaten


Berlin ist, wie so manch Grosses, voller Widersprüche. Es gibt hier womöglich alles.
Die soziale Situation schätze ich so ein: Berlin ist eine Stadt für Menschen und gibt viele Freiheiten. Die Probleme einer Grossstadt, die vielen Ausländer (hier vor allem aus Osteuropa, Polen), der Wohnungsmangel im bezahlbaren Segment, die Harz IV-Empfänger und all die, die in einem Programm laufen, das daraus herausführen soll, die Rentenbezüger, die Gesundheitsversorgung, werden gesehen und auch engagiert angepackt. Das sehe ich vor allem darin, dass sehr viele Bürger hier ehrenamtlich tätig sind. Es wird sehr viel unbezahlte Arbeit zugunsten Schwächerer geleistet. Dabei wird sorgfältig Rücksicht auf Andersdenkende genommen. Die Freiheit anders zu leben als das der Norm einer Mehrheit entspricht, gibt es hier. Die Schattenseiten sind auch zu sehen: Der Obdachlose, der in zerlumpten Kleidern barfuss durch den Hauptbahnhof irrt – er will nicht anders und weist jeden von sich. Die manchmal schräge Architektur ist hier ab und zu noch möglich. Wohnen wie’s mir gefällt, kann man in Berlin. Aber auch hier regiert das Geld. Die Schere von Arm und Reich geht weiter auseinander. Luxuswohnungen schiessen aus dem Boden. Teure Wohnungssanierungen ergeben teure Wohnungen. Kinder werden vernachlässigt weil die Kasse sonst nicht stimmt. Zu DDR Zeiten hat man die Kinder schon früh den Eltern (weg-)abgenommen. Das wird jetzt im kapitalistischen System ebenfalls gemacht. Auf dem Buckel der Kinder und Eltern wird die Wirtschaft bedient. Armut herrscht vor allem bei Alleinerziehenden, Arbeitslosen und Rentenbezügern. Die Krankheitskosten werden vermehrt noch auf die Kranken übertragen, was manche zur Armut treibt. Die Solidarität der Besserverdienenden wird in Zukunft noch mehr gefragt sein, denn nur über Steuereinnahmen wird eine Finanzierung zur Behebung von Armut möglich sein.
Wir leben hier in einem Stadtteil mit sehr vielen Einbrüchen. Dennoch fühlen wir uns sicher. Es gibt zwar manchmal Situationen in denen viel Polizei zu sehen ist. Aber den Bösewicht bekomme ich dann selten zu Gesicht. Die Menschen leben in der üblichen Grossstadthecktick. In der S-Bahn hat jeder seine Stöpsel in den Ohren und seinen Blick konzentriert auf das i-phone. Man spricht nicht mit Fremden. Einer Bettlerin wirft man 50 Cents in den Becher. Die überdimensionierten Werbeplakate dominieren die stille Kommunikation: „Alles geben, nichts nehmen.“ „Sicherheitshinweis: Lassen sie ihr Gebäck nicht unbeaufsichtigt!“ Und die grosse Frage ist immer: Wo geht es weiter? Welcher Zug, welche Zeit, welches Gleis, welcher Wagen, welcher Sitz, welche Tür? Der Bahnhof ist nicht zum Verweilen gemacht. Hier will jeder weg.
Ich bin dankbar, dass ich hier diese Arbeiten machen darf: Auf dem Boden der manchmal sehr einfachen Verhältnisse, dann aber auch im Kontakt mit dem Mittelstand. Im Miteinander in auch ab und zu komplizierteren Verhältnissen. Ich finde es sehr interessant, wie sich die Menschen hier organisieren, wie sie sich gegenseitig helfen, wie sie Wege suchen das Leben zu meistern. Oft geht es in meiner alltäglichen Arbeit um einfache Dinge wie sauber machen, Brötchen streichen, jemandem zuzuhören, einen Auftrag auszuführen, Holzlatten zu sägen, eine Tür weiss anzumalen, Schrauben anzuziehen, einen Schlüssel abzuholen, Kisten zu stapeln, Kleider zu sortieren, jemanden zum Zug zu bringen, Kaffee zu kochen, eine Auskunft zu geben, Abfall zum Container bringen oder Möbel zu transportieren. Manchmal schlägt mein Herz auch höher: Wenn jemand mit einer blutenden Wunde kommt und ich sie versorgen kann. Wenn sich ein Gespräch über den Glauben entwickelt. Wenn ich dann sagen kann: Das habe ich gut gemacht. Das stärkt mich, gibt mir Freude und ich merke immer mehr, wer ich denn wirklich bin…
Auf meine Frage, wie denn Jesus hier in Berlin verkündet wird, bekomme ich schrittweise Antworten. Es wird viel sozial-diakonische Arbeit getan und das mehr und öfters als in der Schweiz. Sie geschieht unter der bewussten Motivation des christlichen Glaubens: „Ich arbeite hier für Gottes Reich.“ Es wird versucht, Inseln der Wortverkündigung einzubauen: Andachten, Vorlesen – auch die wöchentliche Mitarbeiterversammlung in der „Glocke“ hat einen geistlichen Teil. Dass mitten in dieser Sozialeinrichtung an der Lehrter Strasse eine Kapelle gebaut wurde und diese bewusst auch transparent gestaltet ist, zeigt auch den Willen und die Richtung in der gegangen wird. Einzelseelsorge findet statt. Sr. Inge ist da ein leuchtendes Beispiel. Die Gottesdienste sind auf Jesus zentriert und eher traditionell gestaltet. Das stört hier aber nicht. Im Gegenteil ist es wohl für manche eine Hilfe, eine Sicherheit, wenn die liturgischen Elemente wie „Vater unser“, Kollekte mit dem Körbchen einsammeln, Glaubensbekenntnis und Schriftlesung jeden Sonntag erscheinen. Was zudem auffällt: In Berlin gibt es keine grossen Gemeinden. Dafür viele kleine.

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